Geschichte vom schwarzen Quadrat
von Maria Bilinska
Themen
Formen – Geometrie – Mathematik – Kunst – entdecken – sehen – lesen – Wirklichkeit – Realität
Inhalt
Ein Bilderbuch nicht nur zu Kasimir Malewitschs Bild „Schwarzes Quadrat“, sondern vor allem über Formen, die unseren Blick und unser Verstehen von Dingen und letztlich allem Wirklichen prägen.
Angaben zum Buch:
Titel: Geschichte vom schwarzen Quadrat
Autorin & Illustratorin: Maria Bilinska
Verlag: Edition Bracklo (2024)
ISBN: 978 3 946986 24 9
Alter: ab 5 Jahren
Verlagsseite zum Buch ➚
Kommentar:
Unsere Wirklichkeit mit Formen erfassen, lesen und verstehen: das ist die Grundlage der Geometrie. Genau dazu regt dieses intelligente Bilderbuch an, auch schon jüngere Kinder, wenn sie sich mit ihren Eltern oder Erzieherinnen aufmachen zu alltäglichen Ausflügen in die sie umgebende Lebenswelt. Dann entdecken sie zum Beispiel lauter Quadratisches: in den Fenstern der Häuser ihrer Straße, in den Mustern von Tischdecken, in der Tastatur der Computer, in Schachteln mit Süßigkeiten und und und … Dabei sind auch noch alle möglichen anderen Formen zu sehen. Und Quadratisches gibt es sogar in Bildern in Museen zu bestaunen. Das ist aufregend und auch anregend! Anregend nämlich, wenn man durch solche Entdeckungsreisen anfängt darüber nachzudenken, warum wir Menschen eigentlich Formen wie die des Quadrats brauchen, um Dinge als einzelne Gegenstände sehen und erkennen zu können. Aber gewinnen aus solchen Erkundungen auch Künstler ihre Ideen, um mit ihnen ihre Bilder auf die Leinwand bringen, vielleicht auch Kasimir Malewitsch, der das berühmte Schwarze Quadrat gemalt hat? Dieses Bilderbuch animiert dazu, über solche Fragen nachzudenken. Vor allem aber ist es eine Schule des Sehens, des genauen Hinsehens, um geometrische Formen in den Dingen zu entdecken und zu „lesen“, darum eine Schule sinnentnehmenden Lesens.
Hier für Leanders Lieblinge vorgestellt und empfohlen von Gabriele Hoffmann, LeseLeben e.V. – Über www.leseleben.de findet ihr viele weitere Buchempfehlungen (mit Kurzvideos) und Seminar-Angebote.
Erkenntnistheoretische Anmerkungen:
„Geschichte vom schwarzen Quadrat“ will eine Einführung in die KUNST des Kasimir Malewitsch sein. Faktisch lenkt dieses Buch unsere Aufmerksamkeit auf FORMEN, die unseren Blick und unser Erkennen von Dingen und letztlich allem Wirklichen prägen. Kunst, vor allem die avantgardistische Kunst des 20.Jahrhunderts arbeitet ausdrücklich mit solchen Formen. Und deswegen ist dieses Buch ein gutes Buch zur Einführung in die Kunst, vor allem aber ein wichtiger Beitrag zur Leseförderung, denn es fördert genaues Hinsehen und „Lesen“, was man sieht.
Aber der Reihe nach: Auf der Einband-Rückseite lesen wir „Bilderbuch-Hommage an Kasimir Malewitsch“. Das stimmt insofern, als ganz hinten im Buch, auf der letzten Seite, Malewitsch genannt wird, ein Künstler, dessen Werke, vor allem seine Quadrate, auch in vielen Museen der Welt zu finden sind, wie es auf den Seiten zuvor heißt. Dass die „Geschichte vom schwarzen Quadrat“ deshalb ein Buch ist, dass schon kleinen Kindern verdeutlicht, woher Künstler wie Malewitsch ihre Ideen nehmen, das stimmt aber genau genommen nicht, macht Sinn allenfalls mit einem zweiten Blick auf die Illustrationskunst der Buchautorin Maria Bilinska. Malewitsch hat seine Ideen nämlich nicht aus den Dingen gewonnen, die uns umgeben; er war vielmehr der Erfinder des sogenannten Suprematismus, einer Kunstform, die den Bezug auf alles Gegenständliche, vor allem auf wirkliche Dinge ganz grundsätzlich und radikal abgelehnt hat. Darum wird diese Kunst auch „ungegenständliche“ genannt, in Kritik an gegenständlicher und konkreter Kunst, die zum Inhalt stets bestimmte Gegenstände hat, und auch in Absetzung von der sogenannten abstrakten Kunst, die sich auch auf Gegenstände bezieht, diese aber in abstrakte Gebilde umformt. Malewitschs Ungegenständlichkeit hat demgegenüber gar keinen Inhalt mehr, will uns kein Etwas mehr zeigen, führt uns vielmehr, so Malewitsch selbst zu seinem Schwarzen Quadrat, radikal NICHTS vor Augen. Doch um auch dieses Nichts sichtbar zu machen, braucht es wieder Formen. Und mit eben diesen spielt Malewitsch. Und mit Formen spielt auch unser Bilderbuch, warum es dann doch eine Einführung in die avantgardistische Kunst von Malewitsch sein kann, besser: so gesehenen werden sollte.
Das ist wiederum zu erklären: Im Kant-Jahr 2024 kann man an Kants Erkenntnis erinnern, dass es jedenfalls für uns Vernunftwesen keine Gegenstände gäbe, würden wir in all unserer Beziehung auf sie, zum Beispiel indem wir sie benennen, uns nicht immer schon bestimmter Formen und sogenannter Kategorien bedienen. Genauer: Einen bestimmten Gegenstand können wir als diesen Gegenstand nur sehen und erkennen, weil wir ihn als einzelnen abgegrenzt von anderen, vor allem neben ihm befindlichen Gegenständen, in seiner eigentümlichen Gestalt ausmachen. Und das können wir nur tun, weil unserem Sehen und Erkennen eben bestimmte Formen der Anschauung zugrunde liegen. Die sind aber nicht Eigenschaften der Dinge und liegen nicht in den Dingen, sondern haben ihren Grund, so Kant, in unserem Anschauungs- und Erkenntnisvermögen. Dazu gehören auch Formen der Geometrie, zum Beispiel das Quadrat. Konkret: Eine Figur mit vier gleich langen Seiten und vier rechtwinkligen Ecken erfassen und benennen wir als ein Quadrat nur deshalb, weil unserer Seh- und Erkenntnisvermögen mit der geometrischen Form eines Quadrats arbeitet. Platon nannte solche Formen Ideen; die Idee bzw. die Form eines Quadrats liegt also allen Figuren zugrunde, die wir konkret als Quadrat sehen.
Nun sind aber im Bilderbuch „Geschichte vom schwarzen Quadrat“ lauter unterschiedliche Quadrate zu entdecken. Sie alle sind natürlich nie eine ideale Wiedergabe der Form oder Idee eines Quadrats, und außerdem gibt es im Buch ganz viele andere Formen, nicht nur Rechteckiges, sondern auch Nicht-Rechtwinkliges, auch Abgerundetes, Rundes, Halbrundes, sogar Krummes und auch Striche.
Solche realen Figuren in unserer Welt auszumachen, dazu regt das Bilderbuch ausdrücklich an. Greifen aber, um auf den Anspruch einer Einführung in Kunst zurückzukommen, Künstler auf solche quadratförmige oder sonst geformte Dinge zurück, um aus ihnen Kunst zu machen? Malewitsch mit Sicherheit nicht. Irrt also Maria Bilinska mit ihrem Buch? Nein, denn auch sie bildet ja in ihren Illustrationen nie Gegenstände ab, arbeitet also auch (wie Malewitsch) nicht eigentlich gegenständlich, sondern zeigt uns immer nur unterschiedlichste Formen.
Jüngere Kinder werden diesen Trick nicht von selbst erkennen können. Darum ist dieses Bilderbuch unter erkenntnistheoretischer und kunstwissenschaftlicher Perspektive sicher nichts für Dreijährige. Intelligente Eltern oder Erzieherinnen oder Lehrerinnen werden mit diesem Bilderbuch bei neugierigen und wissbegierigen Kindern gleichwohl jenes Wissen um Formen wecken können und so auch Wege bahnen können, schon im frühkindlichen Blick auf Gegenstände Formen des Sehens auszumachen. Super geeignet ist dieses Buch daher vor allem für den fortgeschrittenen Schulunterricht im Entdecken von geometrischen Formen als Einführung in die mathematische und (siehe oben) philosophisch-erkenntnistheoretische Geometrie. Als Einführung in die Kunst des Malewitsch taugt das Buch erst für im Sehen geübte und im Erkennen und Lesen fortgeschrittene Kinder, natürlich aber für alle an Kunst Interessierte und für alle in einer auf Nachdenklichkeit ausgerichteten Erziehung Arbeitende.